EMMY NOETHER (1882 - 1935)

NORBERT FRANZKE und WINFRIED GÜNTHER

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Mit Emmy NOETHER soll im folgenden einer Mathematikerin gedacht werden, deren Lebenswerk mit dazu beigetragen hat, daß in unserem Jahrhundert die Mathematik fast in allen Wissenschaften ihre Anwendung findet. Die Persönlichkeit dieser so schöpferisch tätig gewesenen Wissenschaftlerin war von einer sich jedem Vergleich entziehenden Einzigartigkeit. Diese lag vor allem in dem Stil ihres Denkens, welches fast ausschließlich ein mathematisches Denken war, und dem Ziel des Wollens; das in erster Linie auf mathematische Erkenntnis gerichtet war, begründet.

Ihre wissenschaftlichen Arbeiten haben über zwei Jahrzehnte die verschiedensten mathematischen Disziplinen; insbesondere die Algebra, auf das Nachhaltigste beeinflusst. Mit großem Erfolg führte Emmy NOETHER die axiomatische Methode, die in Verbindung mit den von ihr als grundlegend erkannten Begriffen wie Körper, Ring, Ideal, Modul, Restklasse und Isomorphismus eine Wandlung im algebraischen Denken hervorrief, in die algebraische Forschung ein. Als Hochschullehrerin wirkte sie in hohem Maße anregend auf eine große Zahl von Mathematikern.

Emmy NOETHER wurde am 23. März 1882 als erstes Kind des Algebraikers Max NOETHER (1844-1921) in Erlangen geboren. In dieser kleinen süddeutschen Universitätsstadt - die zu Beginn der siebziger Jahre durch das von Felix KLEIN (1849 - 1925) Verkündete Erlanger Programm (1872) in den Blickpunkt der mathematischen Öffentlichkeit getreten war - verbrachte sie zusammen mit ihren jüngeren Brüdern Fritz, Alfred und Robert; geboren 1883, 1884 und 1889, die ersten Lebensjahre.

Die Städtische Höhere Töchterschule in Erlangen besuchte Emmy NOETHER von 1889 bis 1897. Das Ausbildungsprogramm an dieser ausschließlich für Mädchen bestimmten Bildungseinrichtung entsprach völlig der Stellung der Frau, die diese innerhalb der spätbürgerlichen Gesellschaft einzunehmen hatte. So wurde dort unter anderem der musischen Erziehung und dem Sprachunterricht eine wesentlich größere Bedeutung beigemessen als den naturwissenschaftlichen Fächern; in denen nur ein geringer Teil des Stoffe vermittelt wurde, der heute in unseren Schulen bis zur Klasse 8 geboten wird. Es mutet deshalb auch keineswegs verwunderlich an, daß sich Emmy NOETHER nach ihrer Schulzeit weiterhin mit Sprachen beschäftigte. Im Jahre 1900 legte sie in Englisch und Französisch mit sehr guten Noten die staatliche Lehrerinnenprüfung ab, die sie berechtigte, an Mädchenschulen zu unterrichten. Hiervon hat sie allerdings nie Gebrauch gemacht.

Im Wintersemester 1900/01 hörte sie an der Erlanger Universität die Vorlesungen des Romanisten Julius PIRSCH (1870 - 1959) und die des Historikers Richard FESTER (1860 - 1945). Neben dem Besuch der Vorlesungen an der Universität bereitete sich Emmy NOETHER auf die Reifeprüfung vor, die sie im Juli 1903 in Nürnberg ablegte. Im Herbst desselben Jahres ging sie für ein Semester nach Göttingen, wo sie als Hospitantin Mathematikvorlesungen bei Karl SCHWARZSCHILD (1873 - 1916), Hermann MINKOWSKI (1864 - 1909), Otto BLUMENTHAL (1876 - 1944), KLEIN und David HILBERT (1862 bis 1943) hörte. Die Auswahl der Vorlesungen läßt deutlich werden, daß spätestens bis diesem Zeitpunkt ihr Interesse an der Mathematik erwacht sein mußte.

Nachdem im Jahre 1904 die gesetzlichen Voraussetzungen dafür geschaffen wurden, ließ sich Emmy NOETHER an der Erlanger Universität immatrikulieren.1 Ihre mathematische Ausbildung erhielt sie bei Paul GORDAN (1857-1912), einem engen Freund des NOETHERschen Hauses, und ihrem Vater, Durch GORDAN stark beeinflußt; widmete sie sich zunächst dem Studium der Invariantentheorie. Aus diesem Gebiet erhielt sie dann auch als 25jährige das Thema zur Promotion. Die von ihr verwendeten Methoden in der unter GORDAN angefertigten Dissertation Über die Bildung des Formensystems der ternären biquadratischen Form [1] sowie die Problematik selbst standen im Gegensatz zu ihren späteren Arbeiten noch völlig im Einklang mit der zu dieser Zeit sehr weit verbreiteten formalrechnerischen Auffassung bezüglich der Behandlung algebraischer Fragestellungen. Die mündlichen Prüfungen zur Erlangung der Würde eines doctor philosophicae legte Emmy NOETHER mit dem Prädikat summa cum laude ab.

In den folgenden Jahren unterstützte sie ohne feste Anstellung die Arbeit ihres Vaters an der Erlanger Universität, dem es mit zunehmendem Alter immer schwerer fiel, seinen Verpflichtungen als Ordinarius nachzukommen. Hierbei war es keine Seltenheit, daß sie ihn in Vorlesungen und Seminaren vertrat. In ihren mathematischen Untersuchungen, die sämtlichst noch vom GORDANschen Geist durchdrungen waren, beschäftigte sich Emmy NOETHER während dieses Zeitraumes auch weiterhin mit der Invariantentheorie. Weil die von ihr in dieser Zeit, verfaßten Schriften rein algorithmischen Charakters waren, verwarf sie diese in späteren Jahren. Insbesondere traf das im Jahre 1932 auch auf ihre Dissertation zu. (Man darf heute nicht übersehen, daß die formal-rechnerische Auffassung der damaligen Zeit die Quelle des heute wieder höchst aktuellen Algorithmenbegriffes ist.)

Nach ihrer Promotion wurde sie im Jahre 1908 Mitglied des Circolo matematico di Palermo und im Jahre 1909 Mitglied der Deutschen Mathematikervereinigung (DMV). Speziell an den Veranstaltungen der DMV nahm Emmy NOETHER während ihrer langjährigen Mitgliedschaft regen Anteil, wofür unter anderem ihre rege Vortragstätigkeit auf den Jahresversammlungen beredtes Zeugnis ablegt. Sie war überhaupt Zeit ihres Lebens stets dort anzutreffen, wo sich Mathematiker trafen, und nutzte jede sich anbietende Gelegenheit, um über mathematische Probleme zu sprechen.

In Anlehnung an die grundlegenden Arbeiten von Arthur CALLEY (1814 - 1895) und James SYLVESTER (1814 - 1897), die den systematischen Aufbau der Theorie der Invarianten zum Gegenstand hatten, wurde diese Theorie in der zweiten Hälfte des: 19. Jahrhunderts namentlich durch Heinrich ARONHOLD (1819 - 1884) und Alfred CLEBSCH (1833 - 1877) in Deutschland weiterentwickelt. Innerhalb der von ARONHOLD und CLEBSCH begründeten rein algorithmischen Richtung war GORDAN der bedeutendste Vertreter. Die von ihm zur Anwendung gebrachten Methoden benutzte auch HILBERT in seinen frühen invarianten-theoretischen Untersuchungen, kam jedoch bald davon ab und bevorzugte die für seine gesamte weitere wissenschaftliche Arbeit so bezeichnenden abstrakten Methoden und Denkweisen.

Nach GORDANs Emeritierung im Jahre 1910 kam zunächst Erhard SCHMIDT (1876 bis 1959) für eine kurze Zeitspanne nach Erlangen. Von ihm erhielt Hans FALCKENBERG (1885 - 1946) - ein enger Freund der Geschwister NOETHER - die Anregungen zur Promotion. Bei der Anfertigung der Dissertation wurde er durch Emmy NOETHER auf großzügige Art und Weise unterstützt. Sie bezeichnete ihn im Jahre 1919 auch als ihren ersten Dissertanten.

Durch Ernst FISCHER (1875 - 1954), der SCHMIDT im Erlanger Lehramt folgte, fand Emmy NOETHER Zugang zu den HILBERTschen Problemen und Methoden. Auf der Grundlage der von HILBERT publizierten Abhandlungen Über die vollen Invariantensysteme (1893) und Über die Theorie der algebraischen Formen (1893), die unter anderem die Basis für eine allgemeine Theorie der abstrakten Körper, Ringe und Moduln enthielten, entstanden die NOETHERschen Arbeiten Körper und Systeme rationaler Funktionen [2] sowie Der Endlichkeitssatz der Invarianten endlicher Gruppen [3]. Die Anregungen zu den in der bedeutsamen Arbeit [2] angestellten Untersuchungen erhielt sie im wesentlichen durch FISCHER. Indem Emmy NOETHER auf elegante Art und Weise die speziellen Methoden der Endlichkeitsbeweise von HILBERT mit denen der STEINITZschen Körpertheorie verband, gelang ihr hier der Nachweis für die Existenz von endlichen Rationalbasen für beliebige Systeme von rationalen Funktionen mit n Variablen. Ohne auf HILBERTs Satz von der endlichen Idealbasis zurückgreifen zu müssen, lieferte sie in [3] die Endlichkeitsbeweise der Invarianten endlicher Gruppen; die sämtlichst konstruktiv sind.

Mit den zuletzt genannten Arbeiten trat Emmy NOETHER in die Reihe der profiliertesten Vertreter der Invariantentheorie ein, einer Disziplin, die nicht nur für Mathematiker von großem Interesse war. Auf Veranlassung von HILBERT und KLEIN, die durch ihre invariantentheoretischen Forschungen auf sie aufmerksam geworden waren, kam Emmy NOETHER im Jahre 1915 als Assistentin an das Mathematische Institut der berühmten Georgia Augusta Universität in Göttingen.

In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts wirkte in Göttingen der wohl in dieser Zeit bedeutendste Mathematiker Carl Friedrich GAUSS. Die durch GAUSS begründete Pflege des engen Zusammenhanges zwischen der Mathematik und Physik wurde in der Mitte des Jahrhunderts durch Peter Gustav Lejeune DIRICHLET (1805 - 1859) und Bernhard RIEMANN (1826 - 1866) fortgesetzt. Um die Jahrhundertwende war es dann das glänzende mathematische Dreigestirn KLEIN, HILBERT und MINKOWSKI, das zum Ruhm dieser Universität beitrug.

In der Zeit; in der Emmy NOETHER nach Göttingen kam, standen KLEIN und HILiBERT noch immer unter dem Einfluß des tiefgreifenden Wandels, der sich im naturwissenschaftlichen Weltbild vollzog.

Max PLANCK (1858 - 1947) hatte im Jahre 1900, ausgehend von seinen Untersuchungen zur RAYLEIGHschen Strahlungsformel, die seit Jahrtausenden als unmittelbar evident angesehene Behauptung erschüttert, daß die Natur keine Sprünge macht. Als Mitarbeiter des Züricher Patentamtes hatte Albert EINSTEIN (1879 - 1955) im Jahre 1905 die bisher für absolut gehaltenen physikalischen Begriffe Raum und Zeit für relativ erklärt und die Materie als "festgefrorene" Energie erkannt.

Beide, HILBERT wie auch KLEIN, beschäftigten sich um das Jahr 1915 vollauf mit der Erarbeitung des mathematischen Rüstzeuges für die allgemeine Relativitätstheorie. Ersterer hatte nämlich gerade laut erklärt: Aber nein doch - die Physik ist für die Physiker ja eigentlich zu schwer und sich deshalb der "gedanklich notleidenden" Physik zugewandt, um ihr mathematische Hilfestellung zu geben.

HILBERT, der von den umfangreichen und fundierten Kenntnissen seiner neuen Assistentin wusste, verstand es, sie ebenfalls für "Samariterdienste" zum Wohle der Physik zu gewinnen. In dem von Herrmann WEYL (1885 - 1955) auf Emmy NOETHER verfaßten Nachruf lesen wir hierzu:

Beiden, HILBERT und KLEIN, war Emmy willkommen; da sie Ihnen mit ihren invariantentheoretischen Kenntnissen helfen konnte. Für zwei der bedeutendsten Seiten der allgemeinen Relativitätstheorie gab sie damals die ursprünglichste und allgemeinste mathematische Formulierung: Erstens, die Reduktion des Problems der Differentialinvarianten auf rein algebraische durch den Gebrauch von "Normalkoordinaten"; zweitens, die Identität der linken Seiten der EULERschen Gleichungen für ein Variationsproblem, welches auftaucht, wenn das (mehrfache) Integral invariant ist in bezug auf eine Gruppe von Transformationen, die beliebige Funktionen einschließen. (Identitäten, die das Gesetz von der Erhaltung der Energie und des Impulses für den Fall der Invarianz in bezug auf beliebige Transformationen der vier Wellkoordinaten enthalten.)

Diese für die allgemeine Relativitätstheorie wichtigen Resultate sind in den Arbeiten Invarianten beliebiger Differentialausdrücke [4] und Invariante Variationsprobleme [5] enthalten.

Noch während des Krieges versuchte HILBERT ihre Habilitation an der Philosophischen Fakultät durchzusetzen. Leider wurden seine Bemühungen in dieser Richtung nicht vom Erfolg gekrönt, da der Antrag auf großen Widerstand bei den Historikern und Philologen stieß.

Trotz allem konnte Emmy NOETHER aber während dieser Zeit bereits Vorlesungen halten, die allerdings stets unter HILBERTs Namen angekündigt wurden. Nachdem es 1918 endlich möglich wurde, daß sich auch Frauen habilitieren konnten, reichte Emmy NOETHER die endgültige Fassung von [5] ein, die später als Habilitationsschrift galt. Im Frühjahr 1919 konnten dann in Göttingen das Kolloquium und die Proben Vorlesung stattfinden.

Ihre erste Vorlesung, die sie als Privatdozentin im Herbst 1919 hielt, hatte das Thema Analytische Geometrie zum Gegenstand. Im Jahr darauf las sie bereits über Höhere Algebra, Elementare Zahlentheorie und Algebraische Zahlkörper.

In der revolutionären Nachkriegszeit hielt sich Emmy NOETHER vom politischen Geschehen nicht fern: Als Mitglied der USPD (1918.- 1922) und später der SPD (1922 - 1924) nahm sie mit regem Interesse an Diskussionen über aktuelle politische und soziale Probleme teil. Grete HERRMANN, eine ihrer ersten Schülerinnen, gehörte Leonard NELSONs philosophisch-politischem Zirkel in Göttingen an. Es ist auch sehr wahrscheinlich, daß Emmy NOETHER zu diesem Zirkel Verbindung hatte. Sie protestierte im Jahre 1918 ganz energisch in aller Öffentlichkeit gegen den Bau des Panzerkreuzers A.

Durch ihre Untersuchungen zur arithmetischen Theorie der algebraischen Funktionen kam Emmy NOETHER in enge Berührung mit Richard DEDEKINDs (1831 - 1916) berühmtem XI.Supplement zur 4. Auflage von DIRICHLETs Vorlesungen über Zahlentheorie. 2 Auf der Grundlage der dort erstmalig von DEDEKIND im Zusammenhang mit der Untersuchung der endlichen algebraischen Zahlkörper entwickelten Ideal- und Modultheorie prägte Emmy NOETHER in der mit SCHMEIDLER gemeinsam verfaßten Arbeit Moduln in nichtkommutativen Bereiche, insbesondere aus Differential- und Differenzenausdrücken [6] solche überaus wichtigen Begriffe wie direkte Summendarstellung, direkte Durchschnittsdarstellung, Restklassenmoduln und Modulisomorphie. Der Gegenstand der Betrachtungen in [6] sind Differentialoperatoren, die Mitte der zwanziger Jahre ihre glänzende Anwendung bei der Beschreibung quantenmechanischer Phänomene fanden. Erstmalig verwendete sie hier auch die axiomatische Methode in ihren Untersuchungen; so daß [6] als der eigentliche Wendepunkt in ihren mathematischen Forschungen zu betrachten ist. Damit war für die weitere Entwicklung der Algebra auf axiomatischer Basis der Grundstein gelegt. In Anlehnung an [6] publizierte Emmy NOETHER im Jahre 1921 die als klassisch zu bezeichnende Arbeit Idealtheorie in Ringbereichen [7], mit der sie ihre fundamentalen Untersuchungen zum Aufbau einer allgemeinen Idealtheorie einleitete. An der Modul- und Ideal-theorie, die in ihrem Ursprung einerseits auf die oben bereits erwähnte DEDEKINDsche Behandlung der endlichen algebraischen Zahlkörper und andererseits auf die KRONECKER-LASKER-MACAULYschen Untersuchungen über Polynommoduln zurückgebt, hatte Emmy NOETHER schon vorher bereits großes Interesse. Bereits im Jahre 1917 hatte sie vor der Mathematischen Gesellschaft in Göttingen einen Vorträg über Emanuel LASKERs (1868 - 1941) Zerlegungssätze der Modultheorie gehalten. In [8] verwendete sie konsequent die aus der modernen Algebra nicht mehr hinwegzudenkenden Begriffe wie Ideal, Primärideal und irreduzibles Ideal. Ferner wies sie in dieser Abhandlung auf die von ihr im Jahre 1919 als grundlegend erkannte Tatsache hin, daß die Gültigkeit des HILBERTschen Basissatzes für einen beliebigen Ring R gleichwertig ist mit einem für abstrakte Existenzbeweise außerordentlich gut geeigneten, schon von DEDEKIND benutzten Teilerkettensatz. Auf der Grundlage dieses Satzes gelang es Emmy NOETHER die Theorie der Polynomideale, die im wesentlichen durch HILBERT und LASKER entwickelt worden war, neu zu fundieren. Eine der großen Leistungen, die sie hierbei vollbrachte, war, daß auch für das LASKERtheorem, also für den Satz, daß im Ring P aller Polynome in n Unbestimmten mit Koeffizienten aus einem festen Körper K jedes Ideal als Durchschnitt von endlich vielen Primäridealen darstellbar ist, mittels des Teilerkettensatzes ein abstrakter Beweis erbracht werden kann, der kein tieferes Eingehen auf die Natur der Polynomringe erfordert und überdies nicht einmal von der Eigenschaft Gebrauch macht, daß jedes Polynom eindeutiges Produkt von endlich vielen irreduziblen Polynomen ist.

Die in [8] erzielten Resultate wurden in der Folgezeit von Emmy NOETHER in verschiedenen Richtungen weiter ausgebaut, und zwar gelang es ihr zunächst, die von KRONECKER erfundene Eliminationstheorie der allgemeinen Idealtheorie unterzuordnen und aus dieser Sicht die Nullstellentheorie der Polynomideale neu zu fundieren. In einer Reihe von weiteren Beiträgen stellte sie die Beziehungen zwischen der allgemeinen Idealtheorie und der DEDEKINDschen Idealtheorie der Hauptordnungen in Zahl- und Funktionenkörpern her. Insbesondere löste Emmy NOETHER durch die Angabe von fünf einfachen, notwendigen und hinreichenden Axiomen in [9] die erste Aufgabe der Idealtheorie, die in der axiomatischen Charakterisierung derjenigen Integritätsbereiche besteht, für die der Zerlegungssatz in Primideale und der Gruppensatz gilt.

1922 wurde Emmy NOETHER zum nichtbeamteten außerordentlichen Professor ernannt. Ein Jahr darauf konnte die Fakultät für Emmy NOETHER einen Lehrauftrag für das Fach Algebra erwirken. Hierdurch hatte sie endlich die Möglichkeit, Schüler bis zum Examen zu führen.

Die NOETHERschen Vorlesungen waren geradezu ein Paradigma für lebendige Algebra. Eine ihrer Methoden in der Forschung bestand darin, daß sie sehr häufig in den Vorlesungen über im Entstehen begriffenen Theorien vortrug. Es versteht sich von selbst, daß dieses Vorgehen hohe Anforderungen an die zumeist kleine Zuhörerschaft stellte. Hieraus ergeben sich wohl auch die sehr unterschiedlichen Beurteilungen ihrer Lehrveranstaltungen. Die negativen Urteile dürften sich dabei sicherlich nur auf die Anfängervorlesungen beziehen; denn der hohe Wert derjenigen, in denen sie über ihr eigentliches Arbeitsgebiet vortragen konnte, steht außerhalb jeden Zweifels.

Im besonderen Maße ließ Emmy NOETHER ihre Mitarbeiter und Schüler, unter denen wir die Namen von Wolfgang KRULL, Rudolf HÖLZER, Max DEURING, Heinrich GRELL, Gottfried KÖTHE, Jakob LEVITZKI, Hans FITTIING, Otto SCHILLING, Chiungtze TSEN und Kenjiro SHODA finden, an ihren wissenschaftlichen Problemen teilhaben. Großzügig ließ sie viele der von ihr erzielten Resultate durch diese publizieren; man denke in diesem Zusammenhang beispielsweise nur an den zweiten Band der Modernen Algebra von van der WAERDEN. In [10] schreibt dieser:

Völlig unegoistisch und frei von Eitelkeit, beanspruchte sie niemals etwas für sich selbst, sondern förderte in erster Linie die Arbeiten ihrer Schüler. Sie schrieb für uns alle immer die Einleitungen, in denen die Leitgedanken unserer Arbeiten erklärt wurden, die wir selbst anfangs niemals in solcher Klarheit bewußt machen und aussprechen konnten.

Göttingen zog Wissenschaftler und Studenten aus aller Welt an. Zu dem sowjetischen Mathematiker Paul ALEXANDROFF, der ein gern gesehener Gast in Göttingen war, unterhielt Emmy NOETHER enge freundschaftliche. Beziehungen. Im Wintersemester 1928/29 weilte sie auf Einladung ALEXANDROFFs an der Moskauer Universität, wo sie auch mit dem damals noch jungen Algebraiker PONTRJAGIN zusammentraf. Es ist sicher, daß ihre Ideen nicht ohne Einfluß auf deren Untersuchungen blieben. Mit Johann von NEUMANN, der Ende der zwanziger Jahre bei HILBERT arbeitete, stand sie im regen Gedankenaustausch, der sich für beide Seiten als ungemein fruchtbar erwies. Neben den oben genannten Mathematikern waren es vor allen Dingen die französischen Algebraiker Claud CHEVALLEY, Andre WEIL and Jaques HERBRAND, die durch Emmy NOETHER beeinflußt wurden.

Zu Beginn der dreißiger Jahre gingen in Göttingen von Emmy NOETHER die stärkstes Impulse mathematischer Aktivität aus. Trotz allem konnten ihre Freunde keine Anstellung für sie erwirken, die auch nur annähernd ihrem einzigartigen Genie entsprach. Hierzu führt WEYL in [11] aus:

Als ich im Jahre 1930 zum wiederholten Male nach Göttingen gerufen wurde, bemühte ich mich ernsthaft beim Ministerium, eine bessere Stellung, für sie zu erwirken, weil es mir unangenehm war, so eine bevorzugte Stellung neben ihr einzunehmen, die mir als Mathematiker In vieler Hinsicht überlegen war. Ich hatte keinen Erfolg, und es gelang mir auch nicht, ihre Wahl zum Mitglied der Göttinger Gesellschaft der Wissenschaften durchzusetzen. Tradition, Vorurteile und äußere Umstände hielten das Gleichgewicht gegenüber Ihren wissenschaftlichen Verdiensten und ihrer wissenschaftlichen Größe, die zu dieser Zeit von niemandem mehr verleugnet wurden:

Im Jahre 1932 erhielt Emmy NOETHER zusammen mit Emil ARTIN (1898 - 1962) in Würdigung ihrer verdienstvollen algebraischen Forschungen den mit 500 RM dotierten Alfred-Ackermann-Teubner Gedächtnispreis zur Förderung der Mathematischen Wissenschaften. 3 Im gleichen Jahr fand in Zürich der Internationale Mathematiker-Kongreß statt. Unter den deutschen Teilnehmern finden wir neben WEYL, Edmund LANDAU, Richard COURANT, HASSE, HAUPT und KRULL auch selbstverständlich Emmy NOETHER. Ihr Vortrag Hyperkomplexe Systeme in ihren Beziehungen zur kommutativen Algebra war einer der dort gehaltenen 21 Hauptvorträge.

In enger Zusammenarbeit mit HASSE und BRAUER untersuchte sie die Struktur nichtkommutativer Algebra. Dieselben Modulbegriffe, aus denen sie die kommulative Algebra heraus entwickelt hatte, sollten auch ihre Kraft im Nichtkommutativen zeigen (van der WAERDEN).

Ihre Arbeiten Hyperkomplexe Größen und Darstellungstheorie [9] und Nichtkommutative Algebren [12] sind die wichtigsten Arbeiten zu diesem Themenkreis. Zusammen mit HASSE und BRAUER gelang ihr der Beweis eines Hauptsatzes der Algebrentheorie. Die Existenz eines solchen Theorems wurde schon lange vermutet, und der erbrachte Beweis ist nach WEYL ein Markstein in der Geschichte der Algebra.

Emmy NOETHERs mathematische Forschungen wurden zunächst jäh unterbrochen, als am 30. Januar 1933 die Nacht über Deutschland hereinbrach.

Bereits einen Monat nach Errichtung des faschistischen Terrorregimes in Deutschland wurden durch die Nazis unter schamloser Rechtsbeugung sieben Professoren der Mathematisch-Naturwissenschaftlichen Fakultät der Georgia Augusta Universität ihrer Lehrberechtigung beraubt. Unter ihnen waren die Professoren Paul BERNAYS, LANDAU, COURANT, Max BORN und Emmy NOETHER, denen man ihre jüdische Herkunft wie ein Verbrechen vorwarf. Durch WEYL [11] wissen wir, daß es in jener Zeit nicht an Versuchen gefehlt hat, Emmy NOETHER wenigstens die Lehrberechtigung zu erhalten. Sie blieben aber alle erfolglos.

Nahezu drei Jahrzehnte war Göttingen die Metropole der Mathematik und Physik in der Welt gewesen. Ihre Mathematiker und Physiker hatten erheblichen Anteil bei der Schaffung und Vollendung der Quantenmechanik - dem größten physikalischen "Abenteuer" des 20. Jahrhunderts neben der EINSTEINschen Relativitätstheorie. Als im Frühjahr 1933 viele Angehörige der Mathematisch- Naturwissenschaftlichen Fakultät der Georgia Augusta Universität emigrierten, war binnen kürzester Zeit die Grundlage für weitere großartige wissenschaftliche Erfolge in Göttingen zerstört. In den folgenden Jahren konnte man, obwohl eine Reihe bedeutender Gelehrter zurückgeblieben waren, nicht mehr an die in den zwanziger Jahren erzielten Erfolge anknüpfen.

Emmy NOETHERs Freunden war es zunächst gelungen, ihr eine Gastvorlesung am Bryn Mawr College in Pennsylvania zu verschaffen, und so verließ sie im Herbst 1933 das faschistische Deutschland.

Im Sommer des Jahres 1934 kehrte sie noch einmal für eine kurze Zeit an die Stätte ihres langjährigen Wirkens zurück, um ihren Bruder Fritz NOETHER zu verabschieden. Anfang 1934 kam zu Emmy NOETHERs Tätigkeit am Bryn Mawr College noch eine Vorlesung am FLEXNERinstitut in Princton hinzu. Hier traf sie sehr häufig mit WEYL, VEBLEN und BAUER zusammen.

1935 mußte sich Emmy NOETHER einer Operation unterziehen, an deren Folgen sie dann völlig unerwartet am 14. April verstarb.

Der Name dieser schöpferischen Persönlichkeit wird untrennbar mit der Entwicklung der modernen Algebra verbunden bleiben. Als große Mathematikerin ist sie für immer in das Buch der Geschichte der Mathematik eingegangen, an dem sie selbst so viele Seiten begeistert mitgeschrieben hat. Sie war als Frau ganz sicher eine säkulare Erscheinung.






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1 An den deutschen Hochschulen und Universitäten war es bis zum Jahre 1904 den Frauen verwehrt, sich ordentlich Immatrikulieren zu lassen. Mit den Einverständnis der Professoren konnten sie bestenfalls deren Lehrveranstaltungen als Hospitantinnen besuchen. Damit war es Ihnen vom Gesetzgeber unmöglich gemacht, einen Hochschulabschluß zu erlangen.

2 Eine der grundlegenden Forderungen, die Emmy NOETHER an ihre Schüler stellte, war, daß jeder das XI. Supplement aufmerksam zu studieren hatte.

3 Dieser Preis wurde von dem damaligen Inhaber der bekannten Verlagsbuchhandlung Teubner gestiftet.





LITERATUR

[1] Noether, E.:
Über die Bildung des Formensystems der ternären biquadratischen Form.
Journal für reine und angewandte Mathematik 134 (1908), S. 23-90

[2] Noether, E.:
Körper und Systeme rationaler Funktionen.
Mathematische Annalen 76 (1915), S. 161-196

[3] Noether, E.:
Der Endlichkeitssatz der Invarianten endlicher Gruppen. Mathematische Annalen77 (1916), S. 89-92

[4] Noether, E.:
Invarianten beliebiger Differentialausdrücke. Nachrichten von der Gesellschaft der Wissenschaften zu Göttingen (1918), S. 235-257

[5] Noether, E.:
Invariante Variationsprobleme.
Nachrichten von der Gesellschaft der Wissenschaften zu Göttingen (1918), S. 37-44

6] Noether, E.; Schmeidler, W.:
Moduln in nichlkommulativen Bereichen, insbesondere aus Differential- und Differenzenausdrücken.
Mathematische Zeitschrift 8 (1920), S. 1-35

[7] Noether, E.:
Idealtheorie in Ringbereichen.
Mathematische Annalen 83 (1921), S: 24-66

[8] Noether, E.:
Abstrakter Aufbau der Idealtheorie im algebraischen Zahlkörper.
Jahresberichte der Deutschen Mathematikervereinigung 33 (1924), S. 102

[9] Noether, E.:
Hyperkomplexe Größen und Darstellungstheorie.
Mathematische Zeitschrift 30 (1929), S. 641-692

[10] Van der Waerden, B. L.:
Nachruf auf Emmy NOETHER

[11] Weyl, H.:
Emmy NOETHER.
Scripta mathematica III 3 (1935), S. 201-220

[12] Noether, E.:
Nichtkommutative Algebren.
Mathematische Zeitschrift 37 (1933), S. 514-541

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